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Wer liest erfindet – Ein Wortpflanzungs-Szenario

1. Oktober 2021

Die Macht der Worte wird zu ernst genommen beziehungsweise völlig verkannt. Vermeintliche Fehlleistungen wie Tippfehler oder Missverständnisse nutzen wir als Steilpass um die Lust an der Sprache inklusive Definitionshoheit zurückzuerobern.

Lücksmomente vs Allgem. Einbildung – Die Freude am Ausschweifen und Phantasieren ist eine Sache. Sich auf das Gefundene einzulassen eine andere. Ein Momentum, welches an sich auch bei jeder Leserin und jedem Leser selber liegt. So wie wir im Alltag aber Ungewohntes hartnäckig ausblenden, neigen wir auch dazu, Vertipper zu übersehen. Selbst wenn sie durch das microsofte Rechthabeprogramm rot unterstrichen werden. Erwartungen bestimmen, ob und wie etwas für wahr genommen wird. Genau an diesem Punkt werden Wortschöpfungen wirksam. Einerseits, indem sie diese ständige Selektion vorführen, aber auch weil sie den Umstand zutage fördern, dass sich jede und jeder ständig und fast ausnahmslos seine eigene Lesart konstruiert.

Mit Vagemut zur Sinnergie – Worterfindungen können nichts weniger als die Deutungshoheit an der Sprache infrage stellen, wenn nicht sogar dazu verführen, sie zurückzuerobern. Ganz so, wie es Kinder tun, wenn sie sich das Sprechen aneignen und Begriffe verwechseln, vermengen oder schlichtweg erfinden. Kinder wissen sich zu helfen, wenn ihnen etwas fehlt. Sie haben einen bewundernswert pragmatischen Zugriff auf die reale Welt und einen nicht weniger gewinnbringenden Zugang zur Phantasiewelt. Wörter sind Werkzeuge. Notfalls werden sie zweckentfremdet, zerlegt, neu kombiniert, in ungewohnte Kontexte gestellt oder alles zusammen.

Wunschbrummen mit Nonzens – Unsere Sprache im engeren Sinn ist nur ein Mittel von vielen, um zu kommunizieren und zu erschaffen. Gerade als Gestalterin aber auch als Pädagoge benützt man immerhin noch andere. Und reflektiert darüber und damit. Nicht selten ist man aber dennoch wortlos angesichts der Dominanz des festgeschriebenen Wortes oder verzweifelt beim Suchen nach den passenden Sätzen. Das können selbst die originellsten Worterfindungen nicht dauerhaft ändern. Sie können aber inspirieren, über den Tellerrand hinauszusehen und stehen stellvertretend für das Ausnutzen und Bespielen „Dritter Räume“. (Aus „Am Ende ist das Wort“, René Gisler, Werkspuren 1/2019, Wahrnehmung und Reflexion.)

Zum Künstler

Der Luzerner Künstler und selbsternannte Neologist René Gisler findet und erfindet neue Worte. Mit diesen Wortschöpfungen verstösst er seit Jahren systematisch gegen orthografische Autoritäten und notiert und publiziert sie seit 2006 in seinem Blog enzyglobe (www.enzyglobe.net). Der Grossteil dieses Wortschatzes hat 2019 im Thesaurus rex (www.thesaurusrex.ch) einen Platz zwischen zwei Buchdeckeln gefunden. Quasi als Spinn-off seines Weltzers entwickelt er seither Kunstformate für den Öffentlichen Raum wie beispielsweise das Wortpflanzungs-Szenario, ein Freilandversuch transgener Worte, oder die Lotto-Speech, eine Lesung in Form eines Lotto-Matches.

Bild: Tomatencasino, René Gisler
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